Einleitung

Bindung

Bindung gehört zum Menschen

Bindungs-Explorations-Balance

Erste Bindung an die Mutter

Schwangerschaft und Geburt

Phasen der Bindungsentwicklung

Bindungsqualitäten

Entstehung der sicheren Bindung

Bindung und Sprache

Vorteile der "sicheren Bindung"

Sichere Bindung erhält das Leben

Angst zu Verwöhnen

Bindung und Autonomie

Bedeutung der Vater-Kind-Bindung

Frühe Fremdbetreuung

Übergänge in Betreuungseinrichtungen

Bindung, Bildung und Kultur

Literatur: Bindung

Literatur: Frühe Fremdbetreuung

Literatur: Kinder verstehen und liebevoll großziehen

 

 

 

Phasen der Bindungsentwicklung

Die Bindungsentwicklung vollzieht sich in vier Phasen im engen Wechselspiel
der Gehirnreifung und der sozialen Erfahrungen:

In der Vorbindungsphase in den ersten zwei Monaten nach der Geburt versucht der Säugling durch angeborene soziale Verhaltensweisen (Horchen, Anschauen, Schreien, Festsaugen, Umklammern und Anschmiegen) den Kontakt zu seiner Mutter herzustellen. Dieses Verhalten tritt reflexartig auf und die Mutter, der Vater und alle Angehörigen freuen sich meistens darüber. Instinktiv suchen gesunde Neugeborene Gesichter, v.a. den Augenkontakt und reagieren auf den Klang der menschlichen Stimme. Die Bezugspersonen helfen dem Neugeborenen, sie zu erfassen, indem sie sich nahe zu ihm beugen und moduliert sprechen (z.B. „Singsang“ der Ammensprache, höhere Stimmlage). Das Neugeborene erholt sich in diesen zwei Monaten von der Geburt und ist allgemein mit Anpassungsreaktionen für das Leben außerhalb der Gebärmutter befasst. Seine Körperwahrnehmungen bilden den Ausgangspunkt des Ich-Bewusstseins. Mary Ainsworth bezeichnete diese Phase als Phase der unspezifischen sozialen Reaktionen

In der zweiten Phase, der beginnenden Bindungsphase von etwa zwei Monaten bis zum Alter von sechs bis acht Monaten fängt der Säugling an, auf bekannte Personen anders zu reagieren, als auf fremde. Die primäre Bindung wird jetzt mit einer Person aufgebaut, zu der der Säugling den intensivsten Kontakt hat, meist der Mutter. „Er streckt nur ihr und wenigen vertrauten anderen und nicht Fremden seine Ärmchen entgegen“ (Grossmann & Grossmann 2006, S. 73). Der Säugling wirkt auf seine Umgebung ein und bemerkt, dass es damit etwas verändern kann, z.B. Mama kommt, die Rassel scheppert, das Mobile bewegt sich. Der Säugling erweitert durch die Erfahrung der Selbstwirksamkeit sein Ich-Bewusstsein. Im Gehirn erreicht die enorme Aussprossung der Nervenzellen in den Hör- und Sehzentren ihren Höhepunkt. Es werden die neuronalen Grundlagen für alle möglichen Sprachlaute und visuellen Signale bereit gestellt. Mary Ainsworth bezeichnete diese Phase als Phase der unterschiedlichen sozialen Reaktionsbereitschaft. Unbekannten Personen gegenüber beginnt der Säugling gegen Ende der zweiten und mit Beginn der dritten Bindungsphase zu scheuen, er "fremdelt". Dabei wendet er z.B. den Kopf ab, klammert sich eng an seine Vertrauensperson, flüchtet vor dem Fremden oder weint sogar panisch vor Schreck. Das "Fremdeln" wird auch als "Achtmonatangst" bezeichnet, da sich dieses Verhalten häufig mit acht Monaten zeigt, es kann aber auch etwas früher oder später auftreten. Das "Fremdeln" zeigt an, dass der Säugling zwischen vertrauten und fremden Personen unterscheidet. Die Ausprägung und Dauer des "Fremdelns" ist individuell unterschiedlich stark und lang.

In der dritten Phase, der Phase der eindeutigen Bindung zwischen sechs bis acht Monaten und eineinhalb bis zwei Jahren ist eine deutliche Bindung zu seiner Mutter erkennbar. Der Säugling "fremdelt" mehr oder weniger stark bzw. zeigt neugierige Vorbehalte gegenüber Fremden. Er entwickelt sich zum Kleinkind. Diese Phase ist geprägt durch den Beginn der Mobilität, der Sprache und schließlich der Selbsterkennung, d.h. das Kleinkind erkennen die eigene Person als körperlich eigenständiges Wesen. Zwischen 18 und 24 Monaten erkennen sich die meisten Kleinkinder im Spiegel und sagen „ich, mir, meins“. In dieser aufregenden Zeit kann das Kind zunehmend selbst die Nähe zur Bindungsperson bestimmen, zu ihr hin krabbeln oder sich von ihr fort bewegen. Es zeigt Trennungsangst. Die Trennungsangst wird als natürliches Schutzsystem betrachtet, welches die Erkundungsgänge des von Neugier getriebenen Krabbel- und Laufkindes begrenzt. Bewegt sich das Kind auf seine Mama und seinen Papa zu, gluckst es freudig, lacht sie an und läuft ihnen in die Arme. Die ersten Schritte, die das Kleinkind strahlend in Mamas oder Papas Arme läuft, sind unvergessliche Momente. Bewegt sich die Mutter fort, protestiert das Kind und zeigt „Bindungsverhalten“: Schreien, Rufen, Festhalten, Anklammern, Trennungsprotest, Nachfolgen und Suchen. Dieses Bindungsverhalten dient dazu, die Nähe zur Bezugsperson zu erlangen und zu erhalten, um das Gefühl von Sicherheit zu bewahren oder wieder herzustellen. Das „Bindungsverhalten“ löst das natürliche und angeborene „Brutpflegeverhalten“ der Eltern aus. Der Säugling und das Kleinkind vergewissern sich mit Blickkontakten und Rufen ständig, wo sich Mama befindet, die ihrerseits viel in Bewegung ist (deshalb „zielkorrigiert“ in der Bezeichnung nach Ainsworth). Bei Bedrohung sucht das Kleinkind sofort seine Mutter auf und nicht einen fixen Unterschlupf, wie manche Tierjunge. Mama ist der Zufluchtsort, die „sichere Basis“. In der Umgangssprache wird dieser Lebensabschnitt auch als das „Rockzipfelalter“ bezeichnet. Das Kleinkind hängt an der Mutter und möchte an allen ihren Aktivitäten teilhaben, sie ist der Mittelpunkt seiner Welt. Viele Monate lang zeigt es mit seinen Händchen zu Dingen, um deren Namen von ihr zu erfahren und die Muttersprache zu erlernen. Im freudvollen Miteinander mit Mama, Papa und vertrauten Angehörigen findet die „frühe Bildung“ statt. Hier erfährt das Kind die Grundlagen der Welt. „Die Kehrseite von Bindung ist Trauer“ (ebd, S. 74). Ab der Etablierung der Bindung führt eine Trennung zu Leiden. Es wird angenommen, dass in der Obhut einer anderen vertrauten Bindungsperson, z.B. dem Vater, der Oma oder der Bezugserzieherin dieses Leiden abgefangen werden kann. Längerer Trennungen oder der traumatische Verlust der Mutter löst in Säuglingen tiefgreifende Trauerreaktionen mit ganzkörperlichen Symptomen aus. Zeigt das gesunde Kleinkind gar keine Reaktionen auf den Fortgang der Mutter, muss man annehmen, dass keine Bindung besteht, oder dass es zu den „still leidenden Kindern“ gehört. Mary Ainsworth bezeichnete diese Phase als Phase des aktiven und initiierten zielkorrigierten Bindungsverhaltens.

Mit einem fließenden Beginn, etwa ab dem Alter von zwei, drei Jahren und darüber hinaus erstreckt sich die Phase reziproker Beziehungen. Diese Phase beginnt erst, wenn das Kind ausreichend sprechen und verhandeln kann und versteht, was Mama, Papa und andere Bindungspersonene beabsichtigen, d.h. der Beginn ist abhängig von der individuellen sozialen und sprachlichen Reife des Kleinkindes. Diese Phase ist gekennzeichnet durch Prozesse der Differenzierung und Integration der erworbenen Bindungen. Der soziale Radius erweitert sich. Es entstehen auf einander bezogene wechselseitige Beziehungen zu mehreren Bindungspersonen. Spätestens jetzt beginnt die Erziehung, die sich im Idealfall feinfühlig an das Temperament des Kindes anpasst und auf Gewalt verzichtet. Das Kind bildet eine klare Bindungshierarchie. Es hat (gelegentlich wechselnde) Vorlieben, z.B. mit wem es ein Buch liest, wer es tröstet, wickelt, zum WC begleitet, ankleidet usw. Wächst das Kind in einer Familie auf, in der beide Eltern Zuwendung und Zeit schenken können, beginnt es sich nun speziell für den Vater zu interessieren und will mit ihm auf Abenteuerreise gehen – ohne Mutter (siehe Kapitel Bedeutung der Vater-Kind-Bindung). Mit ihm kann es sich ganz anders erfahren. Auch Großeltern und Bezugserzieherinnen können wichtige Wegbegleiter in die Autonomie werden, vorausgesetzt das Kind hat ihnen sein Herz geschenkt und fühlt sich bei ihnen sicher. Die mentalen Fähigkeiten nehmen rasant zu. Seine sprachlichen und motorischen Fähigkeiten explodieren. Die Ausscheidungskontrolle setzt schrittweise ein. Das Kind will alles selber machen, es entdeckt seinen eigenen Willen und verteidigt sein „Selbst“ eindrucksvoll („Trotzalter“). In heftigen emotionalen Gefühlsausbrüchen ringt das Kind um sich selbst. Es benötigt  dafür geduldige und nachsichtige Bezugspersonen. Am Ende dieser turbulenten Phase ist es in der Lage, sich in Zustände anderer Personen hinein zu versetzen und hat sein „Selbst“ mit der Bildung des Selbstkonzepts und des Selbstwertgefühls zwischen drei und fünf Jahren stabilisiert. Das Selbstkonzept besteht aus der Selbstzuschreibung von Eigenschaften, Fähigkeiten, Einstellungen und Wertvorstellungen (z.B. „Ich bin drei Jahre. Ich kann mit meinem Laufrad fahren. Haare waschen mag ich nicht. Meine Lieblingsfarbe ist Grün. Hauen ist böse.“). Das Selbstwertgefühl beinhaltet die Urteile über den eigenen Wert und der damit verbundenen Gefühle. Mit der Ausbildung des „Selbst“ beginnt das Kind, sich für andere Kinder zu interessieren und den Kontakt zu ihnen zu suchen („Kindergartenreife“). Es zeigt „Spielfähigkeiten“, die es ihm ermöglichen, mit anderen Kindern zu spielen. Kinder lieben es, sich zu verkleiden und in verschiedene Rollen zu schlüpfen („Ich bin ein Feuerwehrmann. Jetzt bin ich ein Pirat!“). Sie spielen mit Facetten der menschlichen Existenz und werden noch viele Jahre lang an ihrer Identität arbeiten und sie immer wieder adaptieren. (Auch noch Erwachsene entwickeln Jahrzehnt für Jahrzehnt ihr Selbstkonzept und ihre Persönlichkeit weiter. Dieser Prozess dauert an bis zum Tod.) Mary Ainsworth bezeichnete diese Phase als Phase der zielkorrigierten Partnerschaft.

(Anmerkung: die Bezeichnungen stammen von Laura Berk (2011, S. 260-261) und Mary Ainsworth (zit. in Grossmann & Grossmann 2006, S. 73-76). Die Altersangaben stellen grobe Richtwerte dar, individuelle Entwicklungsverläufe können beträchtlich variieren.)