Einleitung

Bindung

Bindung gehört zum Menschen

Bindungs-Explorations-Balance

Erste Bindung an die Mutter

Schwangerschaft und Geburt

Phasen der Bindungsentwicklung

Bindungsqualitäten

Entstehung der sicheren Bindung

Bindung und Sprache

Vorteile der "sicheren Bindung"

Sichere Bindung erhält das Leben

Angst zu Verwöhnen

Bindung und Autonomie

Bedeutung der Vater-Kind-Bindung

Frühe Fremdbetreuung

Übergänge in Betreuungseinrichtungen

Bindung, Bildung und Kultur

Literatur: Bindung

Literatur: Frühe Fremdbetreuung

Literatur: Kinder verstehen und liebevoll großziehen

 

 

 

Bindung und Autonomie

Eine sichere Bindung stellt eine gute Voraussetzung für die Entwicklung der Eigenständigkeit bzw. Autonomie dar, bei der bestehende Bindungen nicht gebrochen bzw. durchtrennt, sondern durch Prozesse der Differenzierung und Integration erweitert und die Schritte hinaus in das soziale Leben gesetzt werden. Es wird dabei ein Beziehungsnetz aufgebaut. Die Entwicklung der Selbstständigkeit vollzieht sich über Etappen vom zweiten Lebensjahr bis zum Ende der Pubertät und wird im Idealfall zeitlich vom Autonomiestreben des Kindes gesteuert. Die Eltern bleiben idealer Weise als Ort des Rückzugs und Schutzes ein Leben lang verfügbar, auch wenn das Kind selbst längst erwachsen geworden ist und eigene Kinder bekommen hat.

Im besten Fall kann der Vater die unmittelbar nächste Bindungsperson sein, zu der sich das Kind hinwendet, wenn es aus der Mutter-Kind-Bindung hinauswächst. Er stellt entsprechend der Bindungstheorie eine Schlüsselfigur für die natürliche Autonomieentwicklung dar. Bringt sich der Vater ab der Geburt des Kindes engagiert in das Familienleben und die Erziehung ein, gibt er durch seine Zuwendung den besten Wegbereiter und Wegbegleiter für die Entwicklung der Eigenständigkeit. Im zweiten Lebensjahr sucht das mobil gewordene Kleinkind häufig den Kontakt zu Papa und unternimmt „an seiner Hand“ erste „Ausflüge“ ohne Mutter. Fehlt der Vater im Alltag des Kindes können auch Oma, Opa oder andere vertraute Personen wichtige Bindungspersonen werden und die Türen in die Selbstständigkeit eröffnen. In Folge entdeckt das Kind seine weitere Familie, den Freundes- und Bekanntenkreis usw. Im ungünstigsten Fall erlebt das Kleinkind soziale Isolation und Einsamkeit. Lange Zeiten der Trennung von der Mutter und häufig wechselnde Betreuungspersonen können das Kind in der Bindungs- und Autonomieentwicklung irritieren.

Während der großen Entwicklungsschritte zwischen dem ersten und vierten Geburtstag nehmen die Selbstständigkeit und Selbstbestimmung ständig zu. Die Eltern spüren diesen großen Autonomiedrang deutlich. Das Kind interessiert sich für seine Umwelt und andere Menschen und kann schließlich ohne Trennungsangst bei vertrauten Personen bleiben. Es beginnt, alles selber machen zu wollen und ist stolz auf seine neuen Errungenschaften. Das Kind gebraucht ständig die Wörter „nein“, "meins" und "selber machen" und wird ganz wütend und verzweifelt, wenn seine ersten eigenen Pläne durchkreuzt werden.

Für die Kleinkinder ist dies eine aufregende und auch sehr schwierige Zeit, denn sie wollen schon viel aber können noch nicht alle Zusammenhänge verstehen. Die Eltern werden dabei sehr herausgefordert und ihre Geduld manchmal über alle Maßen strapaziert. Das Kleinkind braucht viel Unterstützung und Verständnis und die Eltern einen langen Atem, viel Geduld und „Kraftquellen“. Dieses Alter wurde früher als „Trotzalter“ bezeichnet, da die Erwachsenen ständig mit dem Widerstand des Kindes konfrontiert waren und das als Störung empfunden wurde. Heute weiß man, wie sensibel und bedeutend diese Zeit für eine gesunde Persönlichkeitsentwicklung ist. Man spricht nun vom Alter des „Selbermachen-Wollens“ und „dem Alter der Entwicklung des eigenen Willens“. Mit einer sicheren Bindung gelingt es dem Kind leichter, sich als eigenständige Person zu behaupten und die Schritte in die Autonomie zu setzen. Sie können sich des Rückhaltes der Eltern sicher sein und kooperieren mehr.

Anmerkung zum Wort „Loslösung“ und „Ablösung" im Zusammenhang mit der Autonomieentwicklung:

Fachpersonen, welche in der psychoanalytischen Tradition von Margarete Mahler stehen, verwenden für den Prozess der Autonomieentwicklung das Wort „Loslösung“, engl. „seperation“, und bemühen sich darum, diesem Wort eine abgeänderte Bedeutung zu verleihen. Ich persönlich vermeide das Wort „Loslösung“ und „Ablösung" für Vorgänge der normalen Entwicklung, um Begriffsunklarheiten und Missverständnissen vorzubeugen und bevorzuge die Wörter „Eigenständigkeit“, „Selbstständigkeit“ und „Autonomie“. Das deutsche Wort „Entwicklung" trägt in sich die tief verwurzelte antropologische Grundauffassung, dass der Mensch während der Kindheit und Jugend mehr und mehr zur Eigenständigkeit gelangt und auch dafür geschaffen ist. Eigenständig werden ist in diesem Sinne und in unserem kulturellen Kontext ein integraler Bestandteil der natürlichen Entwicklung des Menschen.

Loslösung jedoch bedeutet in seinem allgemeinen Wortsinn im Zusammenhang mit dem Bindungsphänomen des Menschen: Rückzug, Entfremdung. Nach dem Prozess der Loslösung folgt die Ablösung, d.h. Beendigung der Beziehung, Trennung, Zerreißen des affektiven Bandes, Gleichgültigkeit gegenüber der ehemaligen Bindungsperson. Das ist nicht das Ziel der psychosozialen Entwicklung entsprechend der Bindungstheorie (siehe Kapitel Phasen der Bindungsentwicklung), sondern stellt ein besonderes Anpassungsverhalten auf eine krankmachende Bindung, auf ein Trennungstrauma oder auf unerträgliche Verlassenheitsgefühle, Verzweiflung und Trennungsschmerzen dar. Die Fähigkeit zur Ablösung hat eine wichtige Funktion, um ein Leiden zu beenden und das seelisches Gleichgewicht wiederzuerlangen. Schwierig wird es jedoch, wenn diese Personen später eine neue, tiefe Beziehung eingehen möchten.

Beispiel:
John Bowlby beobachtete die Folgen der Trennung von Mutter und Kind bei Kindern zwischen 15 und 30 Monaten, wie sie zum Beispiel durch einen Krankenhausaufenthalt ohne Eltern-Kind-Einheit auftreten kann. In diesem Alter verkraften Kinder die Trennung von der Mutter sehr schlecht. Nach dem Verlust der Mutter dieser Art protestiert und schreit das Kind und lehnt fremde Personen zunächst ab. Nach ca. einer Woche folgt eine Phase der Verzweiflung und Trauer mit monotonem Weinen, Rückzug und Inaktivität. Auf diese Phase folgt die Loslösung: Das Kind wendet sich von der primären Bindungsperson ab. Es entfremdet sich von ihr. Schließlich gibt es sie auf und löst sich von ihr ab. Das Kind sucht eine neue Bindungsperson als Ersatz. Es lehnt nun fremde Personen, z.B. die Krankenschwester nicht mehr ab und interessiert sich wieder für die Umwelt. Das Kind sucht nun Anschluss an seine Lieblingskrankenschwester. Kehrt die Mutter zurück, wird es vom Kind kaum mehr beachtet. Bleibt das Kind längere Zeit im Krankenhaus erfährt es durch Schichtdienste wiederholt den Verlust seiner Lieblingskrankenschwester. Die wiederholten Trennungsschocks führen dazu, dass sich das Kind an keinen Menschen mehr emotional bindet. Es wird ichbezogen und materialistisch orientiert. Die Wechsel der Krankenschwestern stören es nicht mehr, auch der Besuch der Mutter bedeutet nicht viel. John Bowlby beschreibt das Kind so: „Es wird fröhlich und an die ungewöhnliche Situation (des Krankenhausaufenthaltes) angepasst und offensichtlich jedermann gegenüber gelöst und furchtlos erscheinen. Aber diese Geselligkeit ist oberflächlich: Das Kind scheint kein Verlangen nach irgendjemandem zu haben“. Eibel-Eibesfeldt fasst zusammen: „Es prägt sich die Haltung des Distanzlosen, der leicht Kontakte anknüpft, aber ihnen nie einen tiefen Inhalt gibt. Die Kontakte werden ebensoleicht gelöst“ (1998, S. 250)